Die Seele und der Körper

(Im Netz Freundschaften schliessen)


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Italienischer Text von Giancarlo Livraghi gian@gandalf.it – Februar 1997

Deutsche Uebersetzung von Yvonne Börlin – September 1999

 
 
 
 

In den letzten Jahren habe ich mehr Leute durchs Netz kennen gelernt als auf jede andere Art. Einige von diesen Bekanntschaften haben sich zu wirklichen Freundschaften entwickelt. Nicht alle geradewegs. Durchs Web habe ich jemanden kennen gelernt, durch diesen anschliessend jemand anderen ... doch der Ursprung, die Entdeckung lag im Web. Oft lebt man voneinander entfernt (um sich persönlich zu treffen braucht es eine Reise). Oder man ist in der Nähe, nur ein paar Schritte von einander entfernt, ohne es zu wissen.

Es kommt ab und zu vor, dass wir untereinander diese Art Begegnung besprechen. Das Thema ist unter vielen Aspekten faszinierend. Wir begegnen einem Menschen, den wir weder sehen noch berühren können. Bevor wir uns physisch begegnen kennen wir bereits seine Gedanken, den Charakter, das Temperament. Es entsteht ein Verhältnis, ein gegenseitiges Interesse, ein Austausch von Gedanken und Gefühlen; das Bedürfins sich zu begegnen wächst und eines Tages, endlich, trifft man sich. Die rituale Frage ist "wie verschieden bin ich von dem das du dich erwartetest?"

Kurz gesagt, der Weg ist das Gegenteil des Ueblichen: wir lernen vorerst die Seele und erst später den Körper kennen.

Es stimmt nicht, dass man einander besser kennt wenn man sich zuerst sieht und erst nachher miteinander spricht. Oft ist die physische Begegnung irreführend; sie verbirgt oder verlangsamt die Wahrnehmung der Seele und des Intellekts. Es gibt Leute die sich seit zwanzig Jahren sehen, womöglich dasselbe Bett teilen, und sich nicht wirklich kennen. Die klassische Rechtfertigung der "Ungetreuen" "Meine Frau (oder mein Mann) versteht mich nicht", ist keine Lüge. Physische Nähe ist nicht unbeding Dialog und Verständnis; sie kann sogar zuweilen ein Hinderniss sein.

Es kann Interessantes passieren im Netz. Einige Leute erzählen mir via e-mail viel sehr Privates über sich selbst - Gefühle, Zweifel, Empfindungen, die sie weniger bereit wären zu diskutieren wenn wir uns im selben Raum unterhielten. Die Abwesenheit eines physischen Körper bringt oft zu einer grösseren Offenheit; die Leute scheinen sich eher gehen zu lassen, machen sich weniger Sorgen und haben weniger Aengste als bei einem reellen Gegenübersein.

Es liegt eine Art Zauber in der Zusammenkunft von freien Seelen die wir nur nachher als Körper sehen.Wenn sich diese Menschen physisch begegnen ist er oder sie nicht "neu". Unsere Wahrnehmung ist anders, denn während den wir das "Aeussere" anschauen, wissen wir bereits wie es im "Inneren" aussieht.

Ich will damit nicht sagen, dass es immer besser ist, die Seele vor dem Körper kennenzulernen anstatt auf dem üblichen Wege. Manchmal ist es eine bessere und reichere Erfahrung, manchmal nicht. Doch bedeutet es nicht ein weniger intensives oder "künstliches" Bekanntwerden wie es sich oft Leute die nie auf dem Netz waren, vorstellen.

Bestimmt ist es eine neue und interessante Erfahrung. Es ist anregend zu entdecken wieviel Jemand durch die eigene Art sich auszudrücken, zu reagieren und interagieren oder zu schweigen, offenbahrt. Es ist faszinierend nach und nach die Persönlichkeit Jemandes den wir nie gesehen haben zu entdecken, und diese Ansicht dann mit dem, Was wir bei der Begegnung lernen, zu vergleichen. Wir irren uns selten. Ab und zu kann uns das physische Aussehen überraschen, aber meistens stimmen Charakter und Persönlichkeit genau mit unserem ersten Eindruck überein.

Das kann ein sehr wirksames Heilmittel sein gegen den zurzeitigen Trend, der Aeusserlichkeit zuviel Wert zuzuschreiben. Zum Teil, Dank dem übertriebenen und weitverbreiteten Körperkultus, zum Teil infolge des Fernsehens, leben wir in einer Kultur des Bildes. Wir nehmen oft an, eine Person "ist" was sie "scheint". Dass das Aussehen, sogar die Art wie man angezogen oder beschmückt ist, die Identität sei.

Vielleicht wird das Netz eines Tages seinen Zauber einbüssen. Vielleicht werden wir uns im Video treffen, wenn wir über eine weit grössere Bandweite als heute verfügen werden; das Aussehen wird wieder die Ueberhand gewinnen, und in einer weit ärgeren Form denn ein projeziertes Image ist oft unechter als eine reelle physische Praesenz.

Doch solange wir noch Worte und Gedanken austauschen, haben wir den Vorteil der Seele vor dem Körper zu begegnen. Und nachdem wir uns physisch treffen können wir entscheiden was wir übers Telephon oder in persönlicher Gegenwart mitteilen wollen und was wir zu schreiben vorziehen.

Dies ist nicht gänzlich neu. Die Geschichte ist voll von Freunden und Geliebten die sich oft trafen und gleichzeitig korrespondierten. Wie oft geschieht es, dass Verliebte trotz dem täglichen Treffen noch das Bedürfniss haben, kurze Zettel und Noten auszutauschen? Aber die Kunst zu schreiben war am Verschwinden, in einer mit Telephonen überfüllten Welt. Mit dem Netz haben wir sie neu entdeckt. Oft schreiben wir ganz einfache, sogar ein wenig dumme Sachen; wir scherzen oder sprechen über nicht Besonderes. Warum nicht? Es ist ein Weg um zusammenzukommen, um Gedanken zu teilen, selbst abgesehen von dessen Inhalt.

Wahrscheinlich ist das der Hauptgrund, warum ich es liebe, im Netz zu sein: es ist ein Weg um menschlicher zu sein.

 

   
 

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