Also in English

  anche in italiano

Eine Bombenidee
 
“Frattinisieren” ist nicht
die einzige Bedrohung


Ein Artikel über Edri-gram – 26 September 2007

Deutsche Uebersetzung von Unwatched.org



Es gibt also ein neues Verb in Europa: frattinisieren. Es tauchte zuerst im Deutschen auf, dann im Französischen und Italienischen, und es könnte sich auch in andere Sprachen einschleichen. Es könnte aber auch von einem anderen Wort abgelöst werden, wenn jemand anders sich das nächste Mal dieser hässlichen Sache anschließt:

Am 10. September 2007 (wohl bewusst einen Tag vor dem Jahrestag von 9/11) erklärte der Europäische Kommissar Franco Frattini Reuters gegenüber: «Ich habe vor, eine eindeutige Sondierungsübung mit dem privaten Sektor durchzuführen ... darüber, ob der Einsatz von Technologie möglich ist, um Leute davon abzuhalten, gefährlich Wörter wie Bombe, töten, Völkermord oder Terrorismus zu verwenden oder zu suchen.»

Soweit ich das beurteilen kann, wurde diese Aussage in den Mainstrammedien nicht besonders breitgetreten. Es gab aber prompte Reaktionen online; es begann mit ALCEI’s Presseaussendung Unterdrückung und Zensur. Das Gespenst geht in Italien und in Europa immer noch um. Eine verstörende Aussage der europäischen Kommissars Frattini bringt uns zu einer verheerenden Form der Zensur: das Verbot von Wörtern und Konzepten. Nun ist der Weg geebnet um jene zu bestrafen, die sich trauen, zuviel zu “denken”.

Die Drohung per se ist so dumm, dass sie als kompletter Quatsch abgeschrieben werden könnte. Frattini hat nicht einmal gemerkt, dass, wenn seinem Vorschlag Folge geleistet würde, seine eigene Aussage zensiert würde und von jeder zugänglichen Quelle entfernt würde. Es handelt sich aber leider um keinen Witz.

Würde es funktionieren? Sicher nicht. Tausende Millionen ganz und gar legitimer Seiten könnten aus den Netzwerken entfernt werden, oder “unsuchbar” gemacht werden, nur weil auf ihnen eines der “verbotenen Wörter” (oder andere Inahlte, die als “gefährlich” eingestuft werden könnten). Während es für Kriminelle ein Leichtes wäre, das Problem zu umgehen, einfach indem sie keines der “aufschlussreichen” Wörter verwenden ... es ist recht leicht, Instruktionen für die Herstellung tödlicher Waffen zu schreiben und sie “So repariere ich meinen Staubsauger” zu nennen. Oder, noch einfacher, die Wörter zu “verkleiden”, sodass keines der automatischen Systeme sie entdecken kann. Schon wieder verstehen alle möglichen “Autoritäten” nicht, wie das Internet funktioniert. Oder sie beschließen bewusst, die Augen vor der Realität zu verschließen, damit sie die Kontrolle behalten.

Aber ... steht hier tatsächlich die Verbrechensbekämpfung im Vordergrund?

Schon seit es Networking gibt, gab es auch schon Versuche zu zensieren, zu regulieren, zu verbreiten, zu filtern, Profile zu erstellen, zu spionieren etc. “Zu frattinisieren” ist nur eine der Methoden, sich in die freie Meinungsäußerung und Kommunikation einzumischen – mit allen möglichen Ausreden und unter allen möglichen Deckmänteln.

Terrorismus und gewalttätige Verbrechen stellen hier nur eine diese falschen Vorgaben dar. Selbstverständlich kann jeder, der danach sucht, “So baue ich eine Bombe” in jedem einfachen Chemiehandbuch finden. Es jedoch einfach, die “Abschreckungsschiene” zu fahren und damit politische Unterstützung auch von Seite der “öffentliche Meinung” für Maßnahmen zu gewinnen, die für den Zweck an sich völlig unbrauchbar sind, aber sehr wohl alle möglichen Formen des Missbrauchs “rechtfertigen.” Und natürlich ist die Situation nach der Tragödie von 9/11 noch viel schlimmer geworden.

Andere “klassische” Ausreden sind “Pornographie” (oder noch vagere Definitionen davon, was als “sittsam” angesehen wird), Kindermissbrauch (oder, weitergefasst, “Schutz von Minderjährigen”), “Urheberrecht” etc. – genau wie das bewusste “Missverstehen” von bürgerrechtlich basierten Computerkriminaltechnik und andere Ermittlungsinstrumente wie online DNA-Datenbanken, die zum Zweck der “Verbrechensbekämpfung” ins Leben gerufen wurden, durch die Strafverfolgungsbehörden (vgl. dazu die Prum Konvention).

Mit der Zeit ist es mittlerweile unzählige Male bewiesen worden, dass die Unterdrückung der Freiheit diese Probleme nicht lösen kann, sehr wohl jedoch zu zahllosen Missbräuchen führt; dennoch passieren die gleichen Fehler (oder bewusste Verzerrungen) wieder und wieder.

Hier ein kleiner Crash Kurs in Geschichte:

ALCEI wurde im August 1994 gegründet. Einige Leute waren zu der Zeit der Meinung, dass es sich dabei um eine Reaktion auf die berüchtigte “Italiensiche Razzia” handelte. War es aber nicht. Seit den Anfängen war das Ziel, einen ständigen Wächter mit permanenter Anwesenheit zu schaffen, der nicht nur kurzfristig auf bestimmte Ereignisse reagiert.

Die Razzia von 1994 wurde bis zu einem gewissen Grad international falsch verstanden. Sie wurde beschrieben als “die größte Beschlagnahmung von Foren-Systemen durch die Polizei in der Geschichte.” Man zielte aber damit nicht auf Hacker oder (angebliche) Terroristen ab. Alles ging von einer Suche nach unregistrierter Software aus, die von einigen übereifrigen und technisch ahnungslosen Beamten zu grotesken Dimensionen aufgeblasen wurde. In den folgenden Jahren kam es zu keiner einzigen Maßnahme in dieser Größenordnung, aber zu zahllosen Fällen ähnlichen Missbrauchs, die sich alle auf das italienische Gesetz stützen, das die Verwendung von nicht vollständig registrierter Software (oder die unerlaubte Reproduktion von Musik etc.) als “kriminell” einstuft.

Der “Schutz von Minderjährigen” wurde vorgeschoben, um zahlreiche ausgeweitete “Kreuzzüge” durchzuführen, die sich de facto selten darauf konzentrieren, diejenigen zu verhaften, die anrüchige Inhalte produzieren, und noch weniger darauf, die Leute zu identifizieren, die sich tatsächlich gewalttätiger Verbrechen schuldig gemacht haben, während sie auf aggressive Weise gegen tausende von Leuten (und deren Familien) ermitteln, die oft völlig unschuldig sind, oder sich “Verbrechen” “schuldig” gemacht haben wie sich ein paar sexy Bilder von Mädchen anzusehen, die unter 18 waren oder zu sein schienen.

Natürlich werden Unschuldige irgendwann vom Gericht freigesprochen. Aber bevor das geschieht, werden sie verfolgt, diffamiert, blamiert, usw., was alles nicht durch die Tatsache wettgemacht werden kann, dass sie schließlich für nicht schuldig gefunden werden. In einigen Fällen handelten Angeklagte ein Schuldspruch aus – sie verzichteten auf ihre Recht, sich selbst zu verteidigen, und verzichteten dafür auch auf ein milderes Urteil, weil sie nicht mehr die Kraft aufbringen konnten (finanziell und psychologisch), einen langen und unsicheren Prozess durchzustehen.

In vielen Fällen wurde die italienische Interpretation der EU-Richtlinien und der hiesigen Gesetzgebung durch das Verlangen von Politikern verzerrt, die (tatsächliche oder vorgebliche) “öffentliche Besorgnis” zu besänftigen (und damit ihre privilegierten Positionen nicht zu gefährden) und die spezifischen Bedürfnisse der unterschiedlichen Loyybingfraktionen. Eines von vielen Beispielen ist der berüchtigte Pfefferminz-Fall.

Was steht hinter all dem? Im Jahr 1996 habe ich einen kurzen Artikel unter dem Titel “Kassandra” geschrieben. ALCEI hat ihn rasch “adoptiert” , und auch Electronic Frontier Foundation in den Staaten hat ihn als einen Text mit internationaler Aussagekraft veröffentlicht. Elf Jahre später haben sich die Dinge im Grunde nicht verändert.

Andere Berichte auf Englisch über die Allgemeinsituation in Italien sind zwei Präsentationen der Computer, Freiheit und Datenschutz-Konvention von 2000 und ein Artikel über Cyberspace und Recht.

Es gibt einige kritische Worte in Frattinis Drohung, die es verdienen genauer unter die Lupe genommen zu werden: «eine eindeutige Sondierungsübung mit dem privaten Sektor». Dabei handelt es sich keineswegs um einen neuen Trick, und er ist sehr gefährlich. Im Parlament können einige widerwärtige Formen der Unterdrückung erreicht werden, indem Gesetze durchgebracht werden wenn die Wächter gerade nicht hinschauen oder bewusst ignoriert werden; außerdem werden “beliebte” Ausreden verwendet, wie Terrorismus, Kriminalität, “Schutz von Minderjährigen”, Urheberrecht etc. Es gibt aber auch einen schnelleren und (unglücklicherweise) einfacheren Weg.

Es ist unwahrscheinlich (so hoffen wir zumindest), dass Suchmaschinen überredet werden können, Schlüsselwörter zu zensieren. Dienstanbieter können jedoch auf mehrere Arten konditioniert werden (sie könnten sogar “freiwillig” zustimmen, um “keinen Ärger zu bekommen” – das ist bereits geschehen). Nicht nur einzelne Seiten sondern ganze Websites können mit allen möglichen Ausreden ausgelöscht werden – das ist ebenfalls bereits vorgekommen In einigen Fällen mag es uns egal sein. Wir können ohne weiteres gut ohne ein Angebot mehr für illegales Glücksspiel, perversen Sex oder “Wunderheilmittel” oder andere gefälschtes Zeug leben. In manchen Fällen wären wir auch froh darüber, wenn einiges an Spam und besonders Scam entfernt würde (in diese Richtung wurde allerdings wenn nur sehr wenig unternommen). Das Problem besteht darin, dass sobald das Prinzip angenommen wurde, dass “etwas” durch umgehende die Vollstreckung von Erlässen seitens der Behörden oder sogenannte “freiwillige Zustimmung” entfernt werden kann, oder auf die schwarze Liste gesetzt werden kann, zensiert oder “gefiltert”, kann dieses Konzept verwendet werden, um sich in jede Information oder Meinung einzumischen, die irgendeiner kontrollierenden Instanz nicht gefällt.

Sogar in Ländern wie Italien und dem Rest der EU, wo die freie Meinungsäußerung ein unanfechtbares verfassungsmäßiges Recht darstellt kann die Manipulation von Angst oder Abneigung gegen unmögliche Inhalte zu Zensur führen und anderen Missbräuchen in vielen versteckten Formen führen – bei dem die “öffentliche Meinung” durch Tricks dazu gebracht wird, zu glauben, dass solche Missbräuche “akzeptabel” wären.

Die “Frattini Drohung” ist nur eine solcher Gefahren. Es gibt sie schon seit Jahren und sie werden nicht auf einmal verschwinden. Daher brauchen wir Wächter wie EDRI und unsere Vereinigungen in jedem Land um weiter zu beobachten und, wenn nötig, zuzubeißen. Wir können die Gefahren nicht völlig ausmerzen, weil, was auch immer wir unternehmen, immer wieder neue Tricks auftauchen werden. Aber wir können verhindern, dass sie vollkommen die Oberhand gewinnen.


Beitrag von Giancarlo Livraghi – EDRI-Mitglied ALCEI-Italien




Web search for bomb recipes should be blocked: EU (10.09.2007)
http://www.reuters.com/article/internetNews/idUSL1055133420070910

ALCEI Press Release – Sept. 11 2007 (11.09.2007)
http://www.alcei.org/?p=28

Prum Convention text (7.07.2005)
http://www.ictlex.net/wp-content/Prum-ConventionEn.pdf

An update on the Peppermint affaire (15.05.2007)
http://blog.andreamonti.eu/?p=26

Cassandra (06.1996)
http://gandalf.it/free/casseng.htm

The network society as seen from Italy (6.04.2000)
http://gandalf.it/free/cfp2000.htm   http://gandalf.it/free/monticfp.htm

Internet freedom, privacy and culture in Italy (and the activity of NGOs) (02.2000)
http://gandalf.it/free/ifp.htm

EFFI: Search engine censorship is an absurd proposal (13.09.2007)
http://www.effi.org/en/julkaisut/tiedotteet/pressrelease-2007-09-12.html


Bombenidee – frattinizer.js Download

Auf Deutsch http://www.spreeblick.com/2007/09/15/bombenidee/

Auf Italienisch http://www.sclerosi.org/frattinizzare.php

Auf Französisch http://www.spreeblick.com/2007/09/15/une-idee-de-bombe-frattinizerjs-a-telecharger/




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